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Großer Forschungserfolg durch elterliches Engagement

BeitragVerfasst: Fr 29. Aug 2014, 13:36
von Nicole
Vom Mut eines Forschers und dem Segen des Teilens von Information im Netz

Üblicherweise werden wissenschaftliche Ergebnisse, bei denen es lediglich um einen Patienten geht, nicht publiziert, denn u. a. fehlen Vergleichswerte. Doch im Fall eines 2007 geborenen amerikanischen Jungen nahm ein Genetiker aus North Carolina dieses Risiko auf sich. Ein texanischer Kollege, der die gleiche Nonsense-Mutation bei einem vierjährigen Mädchen aus Kalifornien gefunden hatte, ‚stolperte‘ kurz darauf über die Beschreibung des Kollegen in einem medizinischen Fachmagazin - und plötzlich gab es zwei ‚Kinder ohne Tränen‘, die an der sehr seltenen NGLY1 Deficiency (NGLY1 Mangel-Krankheit) leiden.

Die ‚Abschaltung‘ von NGLY1, einem autosomal-rezessiven Gen, betrifft Abbauwege im Endoplasmatischen Retikulum (ER) und bedingt, dass Zuckermoleküle von Eiweißen, die fehlerhaft aufgebaut sind, nicht ‚abgeschnitten‘ werden, weil ein hierfür erforderliches ‚Werkzeug‘, die sog. molekular-genetische Schere (s. Restriktionsenzym) fehlt. Dieser ‚Schrott‘, (engl. ‚Junk‘), sammelt sich in Organen wie Leber und Hirn an und führt zu schwerwiegenden Schädigungen.

Die Eltern beider Kinder hatten bereits kurz nach den jeweiligen Geburten mit einer Ärzte-Odyssee begonnen und renommierte Forschungszentren um Unterstützung gebeten. Die Eltern des Jungen schrieben einen Internetblog, der wiederum von einer in Indien lebenden deutschen Mutter entdeckt wurde. Hier fand sie die entsprechende Beschreibung der Symptome ihres kleinen Sohnes. Gemeinsam nahmen die beiden Elternpaare Kontakt zu den US-Forschern auf - mit durchschlagendem Erfolg: Das dritte Kind mit einem ausgeschalteten NGLY1-Gen war gefunden und dann ging es Schlag auf Schlag: weitere Fälle weltweit wurden gemeldet. Inzwischen kennt man mindestens 16 Betroffene, 30 Wissenschaftler publizierten hierzu in Genetics of Medicine und veröffentlichten im Rahmen dessen sogar den Aufsatz der beiden Väter Matt Wilsey und Matt Might: ‚Wie Sequenzanalysen der neuesten Generation und die Mitarbeit der Familien die Weise verändern, auf die seltene Krankheiten entdeckt, untersucht und behandelt werden‘ (im Original: The shifting model in clinical diagnostics: how next-generation sequencing and families are altering the way rare diseases are discovered, studied, and treated).

Warum es mir wichtig ist, dies für unser Forum zu schreiben: Ist es nicht fantastisch, dass sich aus der verzweifelten Situation zweier Familien eine Schicksalsgemeinschaft entwickelt hat, die sich gegenseitig Kraft gibt, unterstützt, sogar Freundschaft schließt? Die durch den Einsatz von Eigenmitteln, unermüdlichem Engagement und kompetent betriebener Recherche die besten Wissenschaftler ihres Fachs gewinnen konnte und Stiftungen überzeugen konnte, Gelder zur Verfügung zu stellen? - Ich sehe mich erneut in meiner Auffassung bestätigt, wie richtig und unendlich wichtig es ist, gezielt die Forschung an seltenen Erkrankungen zu unterstützen und wie viel sogar eine derartig kleine Gruppe wie diese bewirken kann!

Die Lektüre zum Thema und das Empfinden dieser schier unglaublichen Dynamik hinterlässt einen tiefen Eindruck bei mir. In relativ kurzer Zeit hat der Einsatz betroffener Eltern zu pathophysiologischen Ergebnissen und weitergehender Forschung geführt, z. B. einer Medikamentenstudie an der Stanford University zum Thema Zellalterung und zu Experimenten am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg, wo man sich darum bemüht, das fehlende Enzym wieder in den Stoffwechsel zu integrieren.

P.S.: Im Zusammenhang mit diesem SPIEGEL-Artikel ist vielleicht auch mein Beitrag v. 16.03.13 zur Präimplantationsdiagnostik nochmals interessant
PID.pdf

Schöne Grüße!

Nicole

Quelle: ‚Kinder ohne Tränen - Genforschern ist es gelungen, eine mysteriöse Erbkrankheit bei Kindern zu entschlüsseln‘, Der Spiegel, Nr. 32 v. 04.08.2014, Seite 104. Zur Zeit nur inkomplett nachlesbar: https://magazin.spiegel.de/digital/index_SP.html#SP/2014/32/128476303